Wort zur Zeit
Liebe Schwestern und Brüder in unserer Pfarrei St. Johannes Baptist Neheim und Voßwinkel,
durch das Münchener Missbrauchsgutachten ist erneut auf erschreckende Weise deutlich geworden, wie sehr
Menschen in unserer Kirche durch Priester Leid zugefügt worden ist, an dem sie ein Leben lang tragen. Das
aufgezeigte Versagen von Bischöfen angesichts der Straftaten durch Priester und die fehlende Sorge um die
Opfer hat viele in Kirche und Gesellschaft zurecht erschüttert. Ich habe mich an zwei Sonntagen in der Predigt zu dieser Thematik geäußert und möchte einige Gedanken dazu noch einmal auch hier veröffentlichen.
Die Kirche wird vom Apostel Paulus im ersten Korintherbrief (1Kor 12, 12-31a) mit einem Leib verglichen, der aus
vielen Gliedern besteht. Sie gehören alle zusammen und sind aufeinander angewiesen. Dort heißt es u.a.: „Wenn
ein Glied leidet, dann leiden alle anderen Glieder mit.“ Die Last dieser Missbrauchstaten lastet schwer auf dem
Leib der Kirche und macht nicht nur mich zornig und auch fassungslos. Wir leiden mit den Menschen, die Opfer
von sexuellem, geistlichem und Machtmissbrauch geworden sind. Wir leiden an der Kirche, in der sich Bischöfe
und auch ein emeritierter Papst so schwer tun, eigene Schuld und Versagen einzugestehen. Dabei gehört das
Wissen um die eigene Schuldverflochtenheit doch zu den Grundüberzeugungen unseres Glaubens. Warum ist es
so schwer, deutlich zu sagen: „Ich bekenne Gott dem Allmächtigen und allen Brüdern und Schwestern, dass ich
Gutes unterlassen und Böses getan habe. Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken, durch meine
Schuld…“ Und es tut mir aufrichtig leid!
Sicher zeigen wir lieber die guten Seiten unseres Lebens und Schuld und Versagen einzugestehen, fällt uns
schwer. Aber es ist doch letztlich befreiend, dies vor Gott zu bekennen und sich seinem Erbarmen auszusetzen,
damit ein Neuanfang möglich ist. Das mag schmerzhaft sein, aber eben auch reinigend und befreiend. „Der Eiter
muss raus!“ diesen Satz des Altbischofs von Erfurt, Joachim Wanke, bei einer Dekanatskonferenz in Sundern,
nachdem der Missbrauch in der Kirche in Deutschland 2010 öffentlich gemacht wurde, hat sich mir eingeprägt.
Der Eiter muss raus, damit der Leib gesunden kann. Wie tragisch ist es, dass sich der Veröffentlichung des
Vergehens an Menschen und Schutzbefohlenen in der Kirche eine allzu schleppende Aufarbeitung des
Missbrauchs angeschlossen hat. Der Redlichkeit halber muss allerdings auch betont werden, dass viele Maßnahmen ergriffen wurden, um Missbrauch aufzuklären und möglichst zu verhindern. Zu nennen sind die Studien (MHG
und andere), die zahlreichen verpflichtenden Präventionsschulungen für hauptamtliches und ehrenamtliches Personal, die Erstellung eines Institutionellen Schutzkonzeptes auch in unserer Pfarrei; zudem müssen sich Täter
weltlichen Gerichten stellen.
In der Predigt habe ich auf den großen Tanker, der die Kirche ist, verwiesen, der, so scheint es, schnelle Wendemanöver erschwert. Aber dass Umkehr, Erneuerung und die Arbeit an systemischen Ursachen notwendig sind,
ist doch offensichtlich. Und auch das gehört zum Grundgerüst der Kirche und unseres Glaubens, ohne dabei
sofort die Substanz auflösen zu müssen. Nicht nur ich frage mich: Sollen die verantwortlichen Bischöfe ihren
Rücktritt erklären, damit ein Neuanfang möglich wird?!
Wir leiden auch an der Kirche, weil viele Christen, Priester und Bischöfe, die mit Herzblut das Evangelium verkünden, möglicherweise unter einen Generalverdacht gestellt werden.
Wir leiden an den Fehlern in der Kirche, weil sie unsere Heimat ist und wir als Christen der Kirche in Geschichte
und Gegenwart so viel Kostbares verdanken: zusammengefasst das Evangelium Jesu Christi.
Auch wenn viele mit ihrer Zugehörigkeit zur Kirche ringen, das Evangelium wird nicht im „luftleeren Raum“
verkündet und gelebt, sondern konkret durch Christen in der stets erneuerungsbedürftigen Gemeinschaft der
Kirche – in guten und in bösen Tagen.
Ich persönlich bin nach wie vor dankbar für das Vertrauen und die Wertschätzung, die mir als Priester dieser
Kirche entgegengebracht werden. Ich bin zutiefst dankbar für die vielen Mitchristen, die sich in unserer Pfarrei für
die Sache des Evangeliums einsetzen. Und ich danke auch für einige aus der Kirche Ausgetretene, mit denen ich
tiefgehende Gespräche geführt habe und weiterhin in Kontakt bleiben darf und die ich mit ihren Impulsen lieber in
der Kirche sähe. – Gerne will ich vor Ort mit Ihnen den Weg des Glaubens weitergehen, um so unserer Berufung
als Christen gerecht zu werden.
Ihr Stephan Jung, Pfarrer